Rezension: Die Galaxis mal anders mit Ronin: Ein Visionen-Roman von Emma Mieko Candon

„Das ist unsere Aufgabe: Visionen begreiflich zu machen. (…) Was für eine Vision sucht Ihr?“

Das Thema Visionen spielt nicht nur in diesem besonderen Roman von Emma Mieko Candon, der im englischen Original am 12. Oktober 2021 bei Del Rey erschien, eine tragende Rolle. Der Titel der Anime-Serie, deren erste Episode der Roman fortsetzt, lautet ja schließlich auch Star Wars: Visionen. Die US-Erstveröffentlichung, die damals Janina für euch rezensiert hat, erschien kurz nach der ersten Staffel des außergewöhnlichen Anime-Formats. Seitdem wurde sich oft gefragt, teilweise auch in unseren Kommentarspalten, ob ein derartiger Nischen-Roman, der weder den Legends oder dem Kanon, noch sonst einer bisherigen Star Wars-Geschichte zuzuordnen war, überhaupt jemals hierzulande das Licht der Welt erblicken wird. Umso größer die Freude, als im Zuge der Ankündigung von Blanvalets großer Aufholwelle klar wurde, dass der Roman unter dem Titel Ronin: Ein Visionen-Roman tatsächlich auf Deutsch erscheint. Am 20. April und damit passenderweise gerade rechtzeitig vor der zweiten Staffel der zugehörigen Serie auf Disney+ war dann Andreas Kasprzaks deutsche Übersetzung erhältlich für die jedoch eine unfassbar kontroverse Entscheidung getroffen wurde.

Was wäre, wenn…

»Star Wars« goes Samurai: Ein faszinierender Roman aus der Gründungszeit der Sith!

Noch vor zwei Jahrzehnten kämpften die Jedi-Klans im Auftrag lokaler Fürsten gegeneinander. Doch eine Gruppe Jedi beschloss, den ewigen Kreislauf aus Kampf und Sterben zu durchbrechen. Ihre Mitglieder sagten sich von ihren Fürsten los und griffen selbst nach der Macht. Sie nannten sich Sith. Doch die verfeindeten Lords verbündeten sich gegen sie und schufen das erste Sternenreich. Nun zieht am Rande des Outer Rim ein ehemaliger Sith ohne Ziel umher. Bis das Schicksal und die Geister der Vergangenheit ihn zwingen, erneut zu seinem roten Lichtschwert zu greifen und dem Unrecht entgegenzutreten.

Klappentext

Das Setting von Ronin: Ein Visionen-Roman entspringt direkt der allerersten Visionen-Folge „Das Duell“. Wer diese (eine Weile) nicht gesehen haben sollte; im 3D-animierten, aber stark verfremdeten Stil alter japanischer Jidai-geki-Filme (historisch angehauchte Dramen, von denen zum Beispiel Die Sieben Samurai George Lucas stark geprägt hat) befindet sich ein einsamer und schweigsamer Krieger in Begleitung seines Astromech-Droiden B5-56 auf einer scheinbar ziellosen Reise zu Fuß. Nachdem er ein Dorf erreicht, in dem die Bewohner*innen von lokalen Banditen terrorisiert werden, greift er ein, als er feststellt, dass deren Anführerin eine Sith ist. Eine jener machnutzenden Wesen, die sich zwanzig Jahre zuvor von den diversen Lords unterstehenden Jedi-Klans losgesagt und damit einen großen Galaktischen Krieg ausgelöst haben. Doch sie wurden besiegt und gelten nun als so gut wie ausgerottet. Der Ronin, ebenfalls ein ehemaliger Sith, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Überlebenden seiner Art zu jagen und ihre Kyber-Kristalle zu sammeln. So stellt er sich mit seiner sich nie deaktivierenden blutroten Klinge dem Kampf, sodass es zum titelgebenden Duell des Kurzfilms von Studio Kamikaze Douga und Regisseur Takanobu Mizuno kommt.

Was sich hier liest wie eine Was-wäre-wenn-Situation des bekannten Star Wars-Universums, wie es zum Beispiel auch die Infinities-Comics oder The Star Wars: Die Urfassung vorgemacht haben, ist auch genau das. Eine komplett alternative weit, weit entfernte Galaxis, losgelöst von allen etablierten Handlungsorten, Charakteren und Ereignissen. Ein durch und durch weißes Blatt, welches vom Kurzfilm skizziert wurde und nun vom Roman ausgemalt werden möchte. Die ersten beiden von insgesamt 44 Kapiteln der 512 Seiten langen Handlung erzählen dabei noch die Folge nach und machen aufgrund ihrer Länge von insgesamt etwa 50 Seiten ein Zehntel des gesamten Romans aus. Es ist dabei auch nebensächlich, ob man „Das Duell“ vor der Lektüre gesehen hat und somit überhaupt erst auf den Ronin und seine Welt aufmerksam wurde, oder ob man sie direkt in Literaturform entdecken möchte. Beide Wege bilden gleichermaßen einen Zugang zum expositorischen Überfall der Sith und ihrer Banditen, sind dabei aber auch jeweils unabhängig genug voneinander. Denn die ersten Kapitel – die ihr auch als Leseprobe auf der Verlagsseite oben findet – sind keine stumpfe 1:1-Nacherzählung des auf dem Bildschirm Gezeigten, wie die meisten Adaptionen zuletzt. Vielmehr macht sich Candon hier die Episode zu eigen und ergänzt sie um einige wichtige Aspekte, die sich später in der Handlung entfalten dürfen. Selbst die kurzen Dialoge wurden leicht vom Wortlaut in der Serie weg angepasst, doch dabei nicht zu sehr abgewandelt. Die Folge erwacht so auf den Seiten zum neuen Leben mit frischen Blickwinkeln und geht organisch in die erst danach startende Haupthandlung über.

Über diese möchte nicht eigentlich gar keine Worte verlieren, denn die größte Stärke von Ronin ist die absolute Freiheit, die der Roman genießt. Keine Skywalker-Saga, kein Kanon, keine vorgegebenen Charakterschicksale oder Entwicklungen hemmen seine Geschichte in irgendeiner Form. Es bleibt nur, sich auf die neue Story einzulassen und für Wendungen, Enthüllungen und Überraschungen aller Art offen zu sein. Denn obwohl kein einziger bekannter Planet auftaucht, von indirekten Erwähnungen durch die Bezeichnung bekannter Spezies mal abgesehen, fühlt sich das Setting durch und durch nach echtem Star Wars an. Wenn man es genau nimmt, hat die Geschichte in ihren Grundzügen eine seit 1977 bestehende allzu klassische Struktur für typische Geschichten rund um den Krieg der Sterne, bringt aber immer wieder frischen Wind in ihre grob in fünf Akte unterteilbare Handlung.

Ronin-Roman, Big in Japan

Frischen Wind bringen auch die prominent vertretenen, in den Romanen der Disney-Ära inzwischen eigentlich leicht unterrepräsentierten Charaktere der dunklen Seite. Es ist aber auch bemerkenswert, wie selbst abseits der Sith keine Figur in Ronin einfach nur klar erkennbar „gut“ ist, sondern Sünden, Schattenseiten und Fehler mit sich trägt. Charakterliche Grauzonen in so einem Maße zu lesen, das sich in immer wieder verschiebenden Konstellationen und Konflikten deutlich wird, tut einem Star Wars-Roman mal wirklich gut. Wechselnde Perspektiven und der immense Anteil an Sätzen, den das Innenleben der Figuren ausmacht, lassen uns mit ihnen fiebern, selbst wenn die Vorgeschichten und Identitäten der meisten Figuren erst nach und nach sichtbar werden und oft später ein anderes Bild auf sie werfen.

Wo wir schon bei rückblickend anderen Eindrücken sind; der Roman lässt auch seine Vorlage „Das Duell“ definitiv anders dastehen. Die etwa eine Viertelstunde lange Episode deutet ihren eigenen Kontext nur an und lässt so viel Platz für eigene Interpretationen. Der Roman ordnet dies natürlich in ein größeres Geschehen ein und überschreibt die eigene Fantasie mit detailliertem Worldbuilding und einer ganz eigenen Lore. Wer die Folge mag, sollte sich dessen bewusst sein, findet andererseits im Roman aber auch ihre konsequent weitergedachte Fortsetzung. Ich als Literaturfan persönlich feiere es, dass es endlich mal wieder einen Roman gibt, der ein bestehendes Bewegtbildmedium nicht nur erweitern darf, sondern sich als größere Ergänzung und sogar die wichtigere Geschichte in dieser Welt entpuppt, wo der Kurzfilm nur an der Oberfläche kratzen konnte.

Viel Anime, bisschen Sequel-Trilogie, ein Schuss Der gefallene Stern

Dazu kommt noch Candons Schreibstil, der die Eigenheiten des japanischen Kinos perfekt versteht und wiedergibt. Dialoge, Tempo-Rhythmus und selbst der visuelle (!) Stil wurden so eingefangen, dass beim Lesen im Kopf die Episode nahtlos in ihrem Schwarz/Weiß-Look mit Farbakzenten weitergeht. Ronin ist also ein auf magische Weise in Schriftform verewigter Anime. Emma Mieko Candons japanischen Wurzeln mögen eine logische Wahl beim Thema des Romans sein, wenn es aber das Ziel war, das Buch exakt dieselbe Atmosphäre wiedergeben zu lassen, wurde es definitiv erreicht. Ich selbst war nie ein großer Anime-Fan und habe nur wenige gesehen, dennoch findet man hier ein visuelles Genre im geschriebenen Wort wieder. Was für ein Kunststück.

Ebenso ist es ein Kunststück, wie die Symbiose aus der Aufarbeitung einiger Star Wars-Vorbilder bei gleichzeitiger Rückführung späterer Star Wars-typischer Bausteine und Szenarien auf diese Vorbilder gelingt. So könnten ein paar Szenen vor allem im Mittelteil direkt jeweils aus einem der drei Sequel-Filme entnommen sein. Am meisten amüsiert war ich aber, als mich ein einige Kapitel dauernde Handlungsabschnitt schon sehr an Die Hohe Republik: Der gefallene Stern von Claudia Gray erinnert hat, der im Original aber erst einige Monate nach Ronin erschien. Ein direkter Vergleich lohnt sich aufgrund der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Inszenierung dieses ähnlichen Ereignisses auf jeden Fall und wer beide gelesen hat, sollte wissen, auf welchen Abschnitt sich das bezieht.

Star Wars: Visions-Logo

Als sich zum Ende hin das Finale allmählich anbahnt, dreht mir der Roman aber ehrlich gesagt trotzdem zu sehr ab. Manche Anime glänzen ja gern mit surrealen und überlebensgroßen Enden, die gerne sämtliche Grenzen sprengen. Auch hier trifft das nach etwa 400 Seiten beginnend ein, womit Candon ironischerweise die Treue zum Genre auf die Spitze treibt. Die World between Worlds wirkt wie der reinste Kindergeburtstag neben dem, was hier erzählt wird. Mein Fall ist es jedenfalls nicht, aber dennoch haben mich der Roman und seine Charaktere noch so weit mitreißen können, dass ich doch gern eine weitere Fortsetzung sehen würde. Die Geschichte ist zwar abgeschlossen und die große Suche findet in irgendeiner Weise ihr Ende, trotzdem bleiben in dieser dynamischen Alternativ-Galaxis viele Entwicklungen offen und hätten Raum für weitere Geschichten aus der Welt des Ronin und des Fuchses.

What does the Fox say? They.

Zum Fuchs, dessen Bekanntschaft der Ronin kurz nach dem Ende der Visionen-Folge und dem Beginn der Originalhandlung macht, möchte ich dann doch noch einige Worte verlieren. Zu Beginn der Rezension habe ich bereits eine kontroverse Entscheidung angedeutet und die bezieht sich auf die deutsche Übersetzung des Romans. Im Original handelt es sich beim Fuchs nämlich um einen nicht-binären Charakter und diese Tatsache ist mir erst nach einigen hundert Seiten im Gespräch durch meine Kolleg*innen, die den Roman im Original gelesen hatten, klargeworden. In der deutschen Übersetzung wurde sich nämlich dazu entschieden, den zunächst als Schweifling oder Fuchs bezeichneten Charakter kurzerhand als männlichen Charakter zu benennen. Herleiten kann man sich diese allzu bewusste Entscheidung nur daher, dass man für einen Fuchs im deutschen maskuline Artikel und Pronomen verwendet und man es hier erstmals mit einer derart präsenten Hauptfigur zu tun hat. Wohl aus diesem Grund wurde hier versäumt, konsequent wenigstens zu versuchen, die Identität der Figur auf die ein oder andere Art in die deutsche Sprache zu übertragen.

Achtung: Es folgen leichte Spoiler im folgenden Abschnitt

Nachdem ich jedoch erst einmal auf diesen Aspekt der Figur Fuchs aufmerksam gemacht wurde, fiel mir mit dem neuen Wissen im Hinterkopf für den Rest der Lektüre auch überhaupt erst auf, was dem Roman alles an Themen und Symboliken durch diese einseitige Anpassung abhanden kommen. Die eigene Identität. Dualität aller Dinge im Einklang der Schwarzen Strömung gegen das Weiße Lodern. Die beinahe perfekt ausbalancierte und durchdacht strukturierte Geschlechterverteilung der Hauptfiguren. Ein männlicher Jedi-Lord. Eine weibliche Sith. Der männliche Ronin und die weibliche Hexe. Eine weibliche Pilotin und ein männlicher Jedi-Hüter. Eine weibliche alte Kriegerin und ein als männlich bezeichneter Droide. Rote Lichtschwerter gegen blaue Lichtschwerter. Und dazwischen, mittendrin, ein strahlend weißes, dessen Besitzere stets xiesen eigenen Weg zum Ziel geht.

Spoiler-Ende

Sicher, es ist eine für den Großteil der Leserschaft und den Lesefluss mitunter starke Umgewöhnung. Doch Sprache verändert sich, genauso wie sich Denken, Rollenbilder und Stigmata verändern (müssen). Sie entwickelt sich genauso, wie wir uns als Gesellschaft entwickeln (sollten). Vorreitende Disney-Autor*innen sind ein wesentlicher, natürlich oft angefeindeter und negativen Kommentaren ausgesetzter Bestandteil dieser Entwicklung, wie sie vor allem in der Hohen Republik wunderbar sichtbar wird. Aber diese Entwicklung ist wichtig, diese Diskussion ist wichtig und einen hier komplett übergangenen, eigentlich schon zensierten Charakterbestandteil einer Hauptfigur finde ich persönlich sehr schwierig. Mindestens ein Hinweis bei dem ersten Auftauchen von Fuchs, eine Fußnote nach dem Motto „Der Charakter Schweifling/Fuchs ist im englischen Originaltext nicht-binär. Der Einfachheit halber werden jedoch im Roman wie beim Wort „Fuchs“ durchgehend männliche Pronomen verwendet“ hätte doch wohl drin sein müssen. Das wäre auch keine optimale Lösung, aber wenigstens wäre der Umstand reinen Deutschleser*innen so bewusst geworden.

So komme ich schließlich auch zu einem insgesamt ziemlich ambivalenten Fazit für meine Bewertung des Romans. Wir haben es hier mit einer interessanten, freien Geschichte zu tun, die trotz aller Andersartigkeiten und fehlender Begeisterung meinerseits für ihr Genre zu großen Teilen immer noch Star Wars pur ist. Dem gegenüber steht bis zum Schluss die mir nicht beantwortbare Frage, warum ich diesen Roman überhaupt lesen soll. Aber auch ohne Mehrwert für das größere Ganze oder den Kanon habe ich nun eine Geschichte erleben können, die jede Menge Herz sowie Verständnis und Gefühl für den Kern enthält, der Star Wars ausmacht. Dazu kommt dann die völlig vergeigte deutsche Übersetzung. Aber solltet ihr euch mit der englischen Sprache schwerer tun, bleibt lieber bei der Übersetzung und seid euch über ihre Versäumnisse klar. Denn selbst im Deutschen musste ich vor allem im letzten Drittel einige Passagen genauer lesen, um die umständlichen und abgedrehten Ereignisse nachvollziehen zu können. Das Buch ist insgesamt wirklich gut, zweifellos. Doch wenn ihr nicht viel Zeit habt und lieber nur für die eigentliche Star Wars-Galaxis relevante Geschichten lesen möchtet, könnt ihr es natürlich auslassen. Aber dann verpasst ihr eine machtvolle Demonstration, wie vielfältig und eigenständig Star Wars-Romane sein können, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu lässt. Was die Serie Visionen als bunter Ritt durch viele Interpretationen des Stoffes und seiner erzählten Stile für den Animationsbereich ist, das ist Ronin also auf zugebenermaßen kongeniale Weise für die Romane.

Der Rezensent vergibt 3 von 5 Holocrons!
Bewertung: 3 von 5 Holocrons

Wir danken Blanvalet für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Wenn ihr noch mehr von Janinas, Tobias‘ oder meiner Meinung zu Star Wars: Visionen und der Begleitliteratur sucht, hört gern in unsere JediCasts zum Thema rein:

3 Kommentare

  1. Hab bis jetzt vlt. 100 Seiten geschafft, aber gerade die interessanten Prämissen dieses Romans haben mich seit langem mal wieder dazu bewegt einen Star Wars Roman direkt nach Veröffentlichung zu lesen. Bis jetzt wurde ich nicht enttäuscht und bin gespannt, ob ich mich am Ende der Rezension weiter anschliessen kann.

  2. Ich habe das Buch endlich durch und hatte mich leider „durchgequält“ meine Erwartungen waren andere die sich mehr einsame Samurai Geschichte im Star Wars Universum gewünscht hatte.

    Vielleicht lag es auch an der Übersetzung, doch mir kam vieles belanglos vor und das Motiv am Ende von Ronin wie er beeinflussr wurde das zu tun, was er tat, fand ich recht fragwürdiv in jeder Hinsicht. 🧐

    Meine Zweitlieblingsfolge von Visions wird es bleiben, doch wenn noch mehr Visions Romane folgen, die sich von meiner Vorstelllung entfernen, dann brauch ich diese (leider?) nicht. 🤔

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